Es ist nicht möglich die TCM zu verstehen, wenn man sie isoliert von ihrer Entstehungs-Philosophie betrachtet. Diese Philosophie ist ihrerseits entstanden aus der orientalischen Kultur mit ihrem Wissen, ihrem Verständnis und ihrer Interpretation des Universums und des Menschen. Ursprünglich waren im Orient wie im Okzident die Philosophie der Natur und die Medizin sehr eng miteinander verbunden. Die moderne westliche Medizin hat sich in der Folge eigenständig weiterentwickelt, indem sie sich von der Philosophie trennte und eigene Methoden und Gesetzmäßigkeiten erarbeitete und indem sie versuchte, den Menschen als eigenes, vom Universum unabhängiges Wesen zu betrachten. Die TCM hingegen ist stets eng mit den philosophischen Grundsätzen aus denen sie entsprungen ist verbunden geblieben, besonders mit dem Taoismus, aber auch mit dem Konfuzianismus und dem Buddhismus.
Gemeinsam haben diesen unterschiedlichen, religiös-philosophischen Strömungen die einheitliche Auffassung des Universum: Der Kosmos ist eine unteilbare Realität, vom "Hauch" belebt und in ewiger Bewegung, in ihm sind alle Phänomene und Erscheinungen miteinander verbunden und voneinander abhängig. Der Mensch íst ein untrennbarer Teil dieses Systems; wie alle Lebewesen ist auch der Mensch ein Mikrokosmos innerhalb eines Makrokosmos und unterliegt demnach all seinen Gesetzmäßigkeiten, Veränderungen und Verwandlungen.
Außer dem Dualismus Mensch-Universum hat die westliche Medizin im Laufe der Jahrhunderte den Dualismus Materie-Geist (oder Körper-Verstand) entwickelt, der übrigens ein Vermächtnis des Dualismus Körper-Seele ist. Dies hat eine klare Trennung verursacht zwischen jenen, die sich mit körperlichen Problemen beschäftigen und jenen, die sich mit spirituelle Fragen befassen und analog dazu zwischen jenen, die sich mit körperlichen Krankheiten befassen und jenen, die sich mit seelischen Krankheiten befassen. Für die TCM ist dieses Konzept völlig unverständlich: Der Mensch ist, so wie alle Lebewesen, die zwischen Himmel und Erde leben, aus einer Verflechtung von Energien, aus den Hauchen dieser beiden Entitäten entstanden. Vom Himmel strömen feine und leichte Hauche, sie spiegeln die geistig-spirituelle Seite des Menschen wider; von der Erde strömen dichtere und schwere Hauche, stellvertretend für alles Körperliche. Auf der Grundlage dieser Gesetzmäßigkeiten hat die TCM mit der Zeit unterschiedliche Instrumente entwickelt (Akupunktur, Pflanzenheilkunde, Ernährungslehre, Atemtechniken, Qi Gong...), um "dem Menschen zu helfen innerhalb der vitalen Bewegung der Hauche zu bleiben, die den Mensch begründen und beleben und in Bezug zu den Hauchen, die das Universum begründen und beleben." (C. Larre). Diese ganzheitliche Betrachtung des Menschen führt folglich dazu, dass eine klare Trennung zwischen körperlichen und geistigen/emotionalen Erkrankungen unwichtig wird, denn die Therapie wird darauf abzielen, das energetische Gleichgewicht wieder herzustellen, denn das ist die Basis für die Gesundheit von Körper und Seele.
Das Konzept des Hauches und dessen Verdichtung oder Verdünnung ist für unsere westliche Denkweise schwer vorstellbar. Tatsächlich bestätigt es lediglich, mit anderen Worten ausgedrückt, die Vorstellung der modernen Physik, ausgehend von der Relativitätstheorie Albert Einsteins, die die Gleichwertigkeit zwischen Energie und Materie festlegt (die Masse ist eine Energieform). Daraus lässt sich folgern, dass alle bestehenden Formen des Universums energetische Strukturen sind, wobei der Unterschied nicht darin besteht, dass die Formen aus verschiedenen Substanzen bestehen, sondern, dass sie im relativen Gleichgewicht sind zwischen den unterschiedlichen Energieformen, aus denen sie bestehen. Die Gedankenwelt vieler Physiker nähert sich daher sehr jener der orientalischen Mystiker, wo die Materie nicht als Gesamtheit von Partikeln gesehen wird, sondern als ein komplexes Netzwerk von Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilbereichen und das Universum als Ganzes betrachtet wird, in welchem seine Bestandteile unzertrennlich sind, untereinander agieren und sich ständig bewegen.